Die Pein im Leib: Wenn das Bauchhirn den Schmerz erlernt

Der Mensch hat zwei Gehirne – eines im
Kopf, ein zweites im Bauch. Die beiden Gehirne haben viele
Gemeinsamkeiten, kommunizieren miteinander und funktionieren nach
ähnlichen Spielregeln. »Darum sind manche Prozesse im Bauchhirn mit
der Chronifizierung von Schmerzen im Zentralnervensystem vergleichbar
und wie bei der Chronifizierung von Rückenschmerzen wirken auch bei
Bauchschmerzen innere und äußere Faktoren zusammen, wenn die Pein zum
Dauerbegleiter wird«, erklärt der Duisburger Schmerztherapeut Dr.
Günther Bittel auf dem Deutschen Schmerz- und Palliativtag 2012 in
Frankfurt

Zehn bis 25 Prozent aller schulpflichtigen Kinder leiden unter
wiederkehrenden Bauchschmerzen. 90 Prozent dieser Kinder fehlen
regelmäßig in der Schule, fast 30 Prozent verpassen mehr als zehn
Prozent ihrer Schultage. Doch nur bei zehn Prozent der kleinen
Patienten können die Ärzte eine klare Diagnose stellen. Nur selten
wird eine bedeutsame körperliche Störung diagnostiziert, die
spezifisch therapiert werden kann. Auch eindeutige psychische
Einflußfaktoren lassen sich in den meisten Fällen nicht feststellen.

Die verbreitete Annahme, dass man wiederkehrende Bauchschmerzen
ohne eindeutige Ursache nicht ernst nehmen müsse, weil diese sich
»auswachsen« ist jedoch falsch: Etwa die Hälfte der betroffenen
kleinen Patienten nimmt ihre Schmerzen ins Erwachsenenalter mit. Und
oft kommen dann weitere Probleme dazu. »Viele Patienten mit
chronischen Bauchschmerzen leiden zusätzlich unter Durchfällen,
Schlafstörungen und anderen psychovegetativen Folgeerkrankungen«,
weiß der Duisburger Schmerztherapeut Dr. Günther Bittel.

BAUCHSCHMERZ ALS DAUERBEGLEITER

Wie viele Menschen an chronischen Bauchschmerzen leiden, lässt
sich schwer abschätzen. In Untersuchungen schwanken – je nach
Definition und Kriterien – die Zahlen zwischen 2,5 und 30 Prozent der
Bevölkerung. Frauen sind häufiger betroffen. Schwer vorhersehbar ist
auch der Verlauf. Die Symptome können sich im Laufe der Zeit ändern,
stärker oder schwächer werden, verschwinden und wiederkommen. Doch in
den meisten Fällen bleiben die Beschwerden ein Dauerbegleiter.
Totschlagdiagnosen und keine Therapie. Die Patienten machen
allerdings oft die Erfahrung, dass ihre Beschwerden weder ernst
genommen, noch adäquat behandelt werden. »Es werden
Totschlagsdiagnosen wie »Reizdarm-Syndrom« und »somatoforme Störung«
gestellt, kombiniert mit therapeutischem Nihilismus«, kritisiert
Bittel. Dabei ist es sehr wohl möglich, häufige und wesentliche
Ursachen der Beschwerden aufzudecken, etwa Laktose-, Fruktose- und
Sorbit-Intoleranz, verzögerte Nahrungsmittelallergien,
Gluten-Unverträglichkeit, Histamin-Intoleranz oder chronische
Infektionen. »Nötig dazu ist jedoch eine exakte Befunderhebung, eine
klinische Untersuchung, ergänzt durch ein Ernährungs- und
Schmerztagebuch sowie eine exakte Labordiagnostik«, sagt Bittel.

MEHR ALS EINE DARMERKRANKUNG

Bei chronischen Bauchschmerzen geht es um mehr als um eine reine
Darmerkrankung. Der ganze Magen-Darm-Trakt ist betroffen. »Eine
wichtige Rolle spielt dabei das so genannte Darmhirn, das kurz ENS
genannte enterale Nervensystem«, erklärt der Duisburger
Schmerztherapeut. Mit seinen 150 Millionen Nervenzellen ist das ENS
das größte zusammenhängende Nervensystem außerhalb des
Zentralnervensystems. In ihm laufen Prozesse nach ähnlichen
Spielregeln ab wie im Rückenmark oder im Gehirn. »Darum ist es nicht
verwunderlich, dass sich auch im Nervensystem unseres
Magen-Darm-Traktes Chronifizierungsprozesse abspielen können, die der
Entwicklung eines Schmerzgedächtnisses im Zentralnervensystem
ähneln«, sagt Bittel. Wie bei der Chronifizierung von Schmerzen im
Rücken, wirken auch bei der Chronifizierung von Bauchschmerzen innere
und äußere Faktoren zusammen: emotionale Aspekte,
Entzündungsprozesse, Ernährung aber auch die mikrobiellen Bewohner
des Darms, die Mikroflora.

MULTIMODALE THERAPIEKONZEPTE

Ähnlich wie bei anderen chronischen Schmerzformen, setzen
Schmerztherapeuten auch bei chronischen Bauchschmerzen heute auf
multimodale Therapien, also Behandlungen, in denen verschiedene
Strategien miteinander kombiniert und den individuellen Bedürfnissen
eines Patienten angepasst werden. »Diese modernen Ansätze, bei denen
Medikamente, psychosomatische und psychotherapeutische Strategien mit
Ernährungsmedizin, mikrobiologischen Therapien und Naturheilverfahren
kombiniert werden, haben eine gute Erfolgsrate«, sagt Bittel.

Pressekontakt:
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